Predigt: Privilegienfest
2013 |
Gesellschaft
e.V. |
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Predigt bei der Lichtermesse im Dom zu Speyer am 3. August 2013 "Das Wunder des Jahrhunderts“ – so nannten ihn seine Zeitgenossen:
Hermann den Lahmen von der Klosterinsel Reichenau. Er gehört zu den großen
Universalgenies des Mittelalters. Vor genau 1000 Jahren wurde er geboren.
Sein Leben und sein Werk möchte ich Ihnen heute vorstellen. Wer war dieser umfassend
gebildete mittelalterliche Gelehrte, der zurzeit der Salier gelebt hat und
von dem uns eine Reihe seiner vielseitigen Schriften überliefert sind? Offensichtlich
war er ein Multi-Talent: ein Dichter und Chronist, dazu bewandert in
Astronomie und in der sog. Komputistik, d. h. der Berechnung des Kalenders
und der Chronistik. Überdies äußerst musikalisch: zum einen verfasst er
wegweisende musiktheoretische Werke, zum anderen komponiert er Gesänge, die man
glücklicherweise in letzter Zeit wieder entdeckt hat. Hermann der Lahme bekam seinen
Namen aufgrund der schweren körperlichen Behinderungen, die ihn schon als
Kind stark einschränkten. Am 18. Juli 1013 kam er im schwäbischen Altshausen
zur Welt, als Zweitältester von insgesamt fünfzehn Kindern des Grafen Wolfrat von Altshausen und dessen Frau Hiltrut. Die Eltern geben ihn schon als Kind von sieben
Jahren in das Kloster Reichenau. Der dortige Abt Berno nimmt sich des Knaben
an. In seiner Obhut entwickelt er erstaunliche geistige Fähigkeiten. In den
folgenden Jahren wird Hermann im großen Umfang als Wissenschaftler, Dichter
und Komponist tätig sein. Als Hermannus Contractus
- als Hermann der Lahme ist er schon zu Lebzeiten weithin bekannt. Die Benediktinerabtei auf der
Reichenau erlebt unter Abt Berno noch einmal eine große Blütezeit. Als
Hermann der Lahme als Schüler aufgenommen wird, ist das Kloster, das auf den
Wanderbischof Pirminius zurückgeht, fast 300 Jahre
alt. Die Klosterschule und die Bibliothek sind schon zu Zeiten Karls des
Großen berühmt. Der Klosterplan von St. Gallen, der Idealplan eines Klosters,
wird hier gezeichnet. Ganzheitlich, so würde man heute sagen, ist der
benediktinische Bildungsansatz: Selbstverständlich kennt man die Heilige
Schrift und die kirchliche Tradition. Durch das Stundengebet ist man bestens
vertraut mit den Psalmen. Zugleich ist man neugierig auf die Welt außerhalb
der Klostermauer und interessiert sich für alle wissenschaftlichen Künste und
Techniken, in denen sich ja schließlich nichts anderes widerspiegelt als die
unergründliche Weisheit Gottes. Hermann wird mit dem ganzen
Wissen der damaligen Zeit vertraut gemacht. Welche Krankheit ihn lähmt, ist
nicht eindeutig. Aus den Überlieferungen lässt sich ein Nervenleiden und
Muskelschwund diagnostizieren. Die fatalen körperlichen Folgen beschreibt
drastisch Berthold, ein Schüler Hermanns: „Er
war derart durch die Grausamkeit der Natur an den Gliedmaßen verrenkt, dass
er sich von der Stelle, auf die man ihn niedersetzte, nicht ohne Hilfe wieder
wegbewegen, noch sich auf die eine oder die andere Seite wenden konnte. In
einem Tragsessel von seinem Diener niedergesetzt, konnte er kaum gekrümmt
sitzen zu irgendwelcher Tätigkeit. In diesem Sessel war dieses nützliche und
wundersame Werkzeug der göttlichen Vorsehung, wiewohl er gelähmt an Zunge,
Lippen und Mund nur gebrochene und kaum verständliche Töne langsam
hervorbringen konnte, ein beredter und eifriger Verteidiger seiner Lehren, munter
und heiter in der Rede, äußerst schlagfertig in der Gegenrede und zur
Beantwortung von Fragen stets bereit." Hermann ist auf die ständige
Hilfe anderer angewiesen, auch auf deren Schreibkraft. Doch all das hindert
ihn nicht, zu einem Universalgelehrten seiner Zeit zu werden. Durch seine
Lähmung kann er kaum am normalen Klosterleben teilnehmen. Umso mehr Zeit hat
er für seine Forschungen. Als 15-Jähriger legt Hermann seine Gelübde ab. Mit
dreißig Jahren wird er trotz seiner Krankheit zum Priester geweiht. Es ist
die Zeit seiner größten Schaffenskraft. Hermanns berühmtestes Werk:
„Chronicon“, seine Chronik der Weltgeschichte, beginnt er fünf Jahre vor
seinem Tod. Er ordnet die überlieferten Fakten, stellt das Ereignis von
Christi Geburt konsequent an den Anfang. Auf ihn geht die Zeiteinteilung „vor
Christus“ – „nach Christus“ zurück. Er listet Jahr für Jahr Ereignisse und
Persönlichkeiten auf, nennt Herrscher und Päpste. Seine Annalen der eher
dunklen Jahrhunderte des frühen Mittelalters sind bis heute eine Quelle der
Geschichtsforscher. In sein eigenes elftes
Jahrhundert lässt er biographische Daten einfließen. So fügt er 1052 in die
große Weltchronik ein Gedicht zum Tode seiner Mutter ein: „Was sie lehrte
bemühte sie sich, im Leben zu sein. Mit Kleidung, Nahrung, Zuspruch, mit
Einsatz und allem Bemüh’n, aus ihrer großen Frommheit
half sie den Elenden. Vor allen begünstigte sie ihre frommen Freunde, wohl
sittenstreng, gab sie sich auch sanft; stets blieb sie mild und ruhig und
kannte den Streit nicht, der Welt gefiel sie woh –-
o, dass sie auch Gott gefiele!“ So der dankbare Sohn über seine
verstorbene Mutter - ein rührendes persönliches Zeugnis inmitten der großen
Weltgeschichte. In seiner Weltchronik erwähnt
er immer wieder auch die Stadt Speyer. So schildert er etwa die Übertragung
der Gebeine des Abtes Guido von Pomposa im Jahr
1047 durch Kaiser Heinrich III oder nennt die verschiedenen kirchlichen Feste,
an denen der Kaiser in Speyer weilte. Auch dessen Besuch der Reichenau
anlässlich der Einweihung der dortigen Markuskirche am Fest des Evangelisten
Markus im April 1048 findet Erwähnung. Ebenso ein Jahr später der Besuch von
Papst Leo IX., des vormaligen Bischofs Bruno von Toul, Graf von Egisheim-Dagsburg, im November 1049. Kaiser und Papst
dürften bei ihrem jeweiligen Besuch auch mit Hermann dem Lahmen zusammen getroffen sein. Interessanterweise kommentiert
Hermann einige Jahre später nicht unkritisch den Kampf Leos IX. gegen die
Normannen, bei dem die Truppen des Papstes unterlagen: Es stehe, schreibt
Hermann, einem solch hohen Kirchenfürsten doch weit eher zu, „mit den Waffen
des Geistes zu kämpfen als für vergängliche Dinge mit der Faust“. Eine
wahrhaft weise Einsicht, die im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder
angebracht gewesen wäre, wenn die Kirche der Versuchung nicht widerstehen
konnte, mit Gewalt ihren Anspruch zu behaupten. Sein Schüler Berthold erwähnt
in der Lebensbeschreibung Hermanns, dass dieser auch eine Geschichte der Kaiser
Konrad II. und Heinrich III. verfasst habe. Leider ist diese Chronik verloren
gegangen. Vielleicht hätten wir durch sie noch weitere Informationen über das
Leben und Wirken der ersten beiden salischen Kaiser erhalten. Und vielleicht
hat er darin auch manche ihrer Taten kritisch kommentiert. Einer seiner
Schüler ist übrigens der spätere Bischof Benno von
Osnabrück, Lehrer der Domschule in Speyer und als Berater der Kaiser Heinrich
III. und Heinrichs IV. einer der bedeutenden Baumeister unseres Doms. Neben seinem Interesse für die
Geschichte ist Hermann der Lahme auch ein begeisterter Mathematiker und
Astronom. Überliefertes Wissen stellt er seiner Welt neu zur Verfügung. Er
verfasst eine Anleitung zum Gebrauch des „Abacus“,
einem römischen Rechenbrett. Vor allem aber – und das machte ihn über die
Reichenau hinaus berühmt: er entdeckt das „Astrolabium“ neu, einen Zeitmesser
der Antike. Richtet man die Scheiben des Astrolabiums genau auf Sterne und
Sonne aus, lässt sich präzise die Zeit bestimmen. Hermann nutzt arabische
Überlieferungen und beschreibt ganz praktisch, wie solch ein Astrolabium
gefertigt werden kann. Selber berechnet er die Länge
der Mondumläufe und sogar den Umfang der Erde. (Ganz nebenbei: die
Behauptung, die Menschen im Mittelalter hätten die Erde für eine Scheibe
gehalten, ist ein Mythos des 19. Jahrhunderts. Offensichtlich dient dieses Klischee
bis heute dazu, generell die Position der Kirche verunglimpfen, als
unwissenschaftlich und unhaltbar zu disqualifizieren und der Lächerlichkeit preiszugeben.
Dagegen gibt es eine ganze Reihe von mittelalterlichen Quellen, die
selbstverständlich davon ausgehen, dass die Erde die Gestalt einer Kugel
hat.) Schließlich beschäftige sich
Hermann als Wissenschaftler auch intensiv mit der Musik. Er entwickelt eine
Notation, um Gastmönchen das Mitsingen zu erleichtern. Diese gerät bald in
Vergessenheit, denn zeitgleich entsteht in Italien die uns bekannte Notenschrift
mit Linien. Aber Hermann komponiert auch selbst. Dem gregorianischen Gesang
gibt er „wunderbaren Wohlklang und
Eleganz“, wie sein Schüler Berthold schreibt. Hermann ist als einer der
wenigen Komponisten seiner Zeit namentlich bekannt. Lange hat man ihm Text
und Melodie der marianischen Antiphonen „Salve Regina“ und „Alma Redemptoris Mater“ zugeschrieben. Nach der jüngeren
Forschung ist diese Zuordnung nicht zu halten. Immerhin findet sich die
älteste Spur des „Salve Regina“ auf einer Reichenauer Handschrift aus dem 11.
Jahrhundert, die in der Landesbibliothek Karlsruhe aufbewahrt wird.
Glücklicherweise sind uns einige kunstvolle Sequenzen erhalten, die er
komponiert hat. Anstelle des Glaubensbekenntnisses werden wir heute gemeinsam
eine von ihnen zu Ehren der heiligen Dreifaltigkeit beten – ein theologisch
anspruchsvoller und sprachlich großartiger Text. Dazu ein Hinweis: zum 1000.
Geburtstag Hermanns ist von dem Ensemble „Ordo virtutum“,
einem erstklassigen Ensemble für mittelalterliche Musik, vor kurzem eine CD
erschienen, auf der Sie in einer fantastischen Aufnahme Kompositionen von
Hermann dem Lahmen hören können, unter anderem – für uns in Speyer doppelt
interessant - auch das Offizium der hl. Afra, das er
ebenfalls vertont hat. Heute stehen wir staunend vor
dem Lebenswerk dieses schwer behinderten Mönchs. Wir können nicht fassen,
welche Lebensleistung er vollbracht hat. Am 24. September 1054 stirbt Hermann
der Lahme, 41 Jahre alt, „das Wunder des Jahrhunderts“, wie er bald genannt
wird. In der Grablege seiner Familie in Altshausen wird er beigesetzt. Im süddeutschen Raum wird er seit langem als
Seliger verehrt. Auf der Innenseite unseres Domportals von Toni Schneider-Manzell ist er ganz unten rechts mit seinen Krücken auf
seinem Tragstuhl zu sehen. Mehr als Gesundheit, Schönheit
und Reichtum, so sagt es die heutige Lesung (Weish 7,10), zählen das
Vertrauen und die Einsicht in Gottes unerschöpfliche
Weisheit. „Sie ist der Widerschein des
ewigen Lichts, der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft, das Bild seiner
Vollkommenheit“ (7,26). Je mehr wir forschen, umso mehr dürfen wir
staunen über die Schönheit und den Reichtum der Schöpfung, über das
unergründliche Wunder des Lebens im Großen und im Kleinen, in der Natur und
im Kosmos. Das Beispiel Hermanns zeigt uns, wie das Schwache – nach einem
Wort des Apostels Paulus (1 Kor 1,27) – das scheinbar Starke beschämen kann.
Gerade ein lahmer Christenmensch sorgt mit dafür, dass wir im Gottvertrauen
nicht erlahmen. Ein gelähmter Mönch kann auch noch tausend Jahre danach unserem
Glauben auf die Beine helfen. Josef D. Szuba
Gebet: Sequenz zu
Ehren der Hl. Dreifaltigkeit von Hermannus Contractus:
Lob und Preis sei dir, dreifaltiger
Gott, ein Gott immer und auf vielfältige Weise. Lobpreis sei dem Vater, dem ewig
gleiches Wesen und wunderbare Ewigkeit zukommt. Lob und Preis sei auch dem Sohn, der
wesensgleiche Weisheit und lebendige Wahrheit ausstrahlt. Lobpreis sei auch dir, süßer Geist, gemäß dem Willen beider: Du bist die heilige Glückseligkeit und wirkliche Heiligkeit. Du bist der Inbegriff alles Guten, lebendiges Sein, aus dem uns
Leben fließt, Liebe und Weisheit, gütigste und wahre Ewigkeit, ewige und
gütigste Wahrheit, wahre und ewige Güte. Hass, Falschheit und Tod mögen
weichen: dein Bild zeige uns in seiner Fülle Wesen, Vernunft und Liebe. Du bist die Quelle, aus der die Sterblichen leben und nach der
wir verlangen: In dir ist Wonne, Herrlichkeit, Heil, Reichtum, Kraft und Sieg.
Gewähre denen, die dich inständig bitten, Anteil an deiner
Liebe; vertreib die Dämonen und heilige die christliche Welt, der du
Anfang und Ende zugleich bist. Vater, starker und erhabener Gott, mächtiger Herr und Licht des
Himmels, du bist der König der Heerscharen, der unaussprechliche Herr - bewahre
uns als deine Geschöpfe. Sohn, Emmanuel, wunderbar Wunderbarer, du
bist höchster Ratgeber, starker Gott, gerechter Herr, Vater der zukünftigen Welt,
Friedensfürst – Jesus, Heiland, erlöse uns. Geist der Gottesfurcht und der Güte, der Erkenntnis und der
Stärke, des Rates und der Einsicht, Lob der Weisheit
– erleuchte, stärke, rette. Du eine Einheit der Dreifaltigkeit, dreifache Gottheit in
Einheit, tilge die Schuld, heile die Kranken, mach friedfertig
die Feinde, löse die Fesseln, vertreib die Gefahren, sättige, die nach dir dürsten durch dein gütiges Angesicht und schenke ewigen Frieden im himmlischen Jerusalem. Lob und Preis sei dir, dreifaltiger Gott, immer
und auf vielfältige
Weise. Amen Quellen: ·
Berschin Walter und Hellmann Martin, Hermann der Lahme. Gelehrter und Dichter
(1013–1054), Heidelberg 2013 ·
Hansjakob Heinrich, Herimann der Lahme ·
Krüger Reinhard, Das lateinische Mittelalter und die
Tradition des antiken Erdkugelmodells (ca. 550–1080) Berlin 2000 ·
Homepage
der Hermannus-Gesellschaft: www.hermann-der-lahme.de/ ·
The Miracle oft the Century: Das Wunder des Jahrhunderts. Hermannus Contractus – Hermann dem Lahmen von der Reichenau. Ensemble Ordo Virtutum
für Musik des Mittelalters. Leitung: Stefan Johannes Morent,
Label: Edition Raumklang |